Polarität – Integration der Schattenseiten

20. Juli 2016
Artikel aktualisiert am 21.03.2024

„Die Dualität wird überwunden zugunsten des grundlegenden Gedankens von der Polarität (…)
Die Bewegung lebt aus polaren Bindungen, bezogen auf An- und Abspannung, Aus- und Einatmung, Physiologie und Psychologie.“

(PETER-BOLAENDER, 1992)1

Die Entwicklung der Person: Individuation

Die Entwicklung der Persönlichkeit wird von C.G. Jung als Individuation bezeichnet. Dieser Prozess beinhaltet die bewusste Entwicklung einer bereits vorhandenen Ganzheit. Jung betont, dass alles, was wir für unsere Ganzheit brauchen, bereits in uns angelegt ist und lediglich entdeckt oder erkannt werden muss. Es geht also darum, das Fehlende nicht länger zu suchen, sondern liebevoll den Blick auf das zu lenken, was bereits vorhanden ist. Wir können Individuation mit einer aufblühenden Blüte vergleichen oder mit dem Auspacken eines Geschenks. Und wir können aufhören, nach dem zu suchen, was uns fehlt, und stattdessen unseren Blick liebevoll auf das lenken, was schon da ist.

Selbsterfahrung, Wachstum und Persönlichkeitsentwicklung sind eng mit Individuation verbunden. Entwicklung heißt also, uns selbst in all unseren Aspekten anzunehmen und auch die Seiten in uns, die wir bisher abgelehnt, entwertet oder verdrängt haben, zu umarmen. Solange wir versuchen, einen Teil von uns loszuwerden, wird er sich umso stärker zeigen. Das kann sich in verschiedenen Formen äußern, wie zum Beispiel in Stimmungsschwankungen, körperlichen Beschwerden oder schwierigen Lebensumständen. Selbsterfahrung und persönliche Entwicklung erfordern daher die schrittweise Integration aller Aspekte unseres Selbst.

Wenn wir von Integration der Polaritäten sprechen, meinen wir das Auflösen des Entweder/Oder-Prinzips. Es geht darum, Bewertungen, Vergleiche und Zuordnungen wie Gut/Schlecht, Richtig/Falsch loszulassen. Statt uns „auf die richtige Seite“ zu schlagen, versuchen wir alles, was wir in uns entdecken, anzunehmen. Auf diese Weise müssen wir unsere Schattenseiten nicht bekämpfen, weder durch Projektionen im Außen noch in uns selbst, und entwickeln uns hin zur Ganzheit.

Einfacher Zugang durch Tanztherapie

Tanztherapie bietet einen einfachen Zugang zur Integration der Polaritäten und damit zur Entwicklung all unserer Seiten. Gerade in Bewegung wird deutlich, dass keine Bewegung ohne ihre Gegenbewegung möglich ist. Für jede Bewegung müssen gegensätzliche Muskeln zusammenarbeiten: Der Agonist führt die Bewegung aus, während der Antagonist gedehnt wird, und umgekehrt. Diese Polarität in der Bewegung spiegelt die Polaritäten in uns wider. Tanztherapie ermöglicht es uns, uns auf spielerische und kreative Weise mit unserer Bewegung und unseren inneren Zuständen auseinanderzusetzen. Sie eröffnet neue Perspektiven und unterstützt uns auf dem Weg zur Integration und Selbstverwirklichung.

„Die Menschen leben, als ginge es immer um ein „entweder/oder“. Sie denken, sie brauchten bloß auszuwählen und schon verschwände das, was sie nicht gewählt haben… Wenn Sie im Leben eine Wahl treffen, dann werden Sie niemals das los, was Sie nicht gewählt haben.“
(WHITEHOUSE, 1991)2

Polarität - Yin und Yang

Funktionen des Bewusstseins

Die Integration von Polaritäten und die Entwicklung des Bewusstseins stehen in enger Verbindung. C.G. Jung beschreibt vier Funktionen des Bewusstseins:

Empfindung: Wahrnehmung über die Sinne, das elementare Bewusstsein um die Körperfunktionen
Denken: Benennen, Interpretieren, Verknüpfen des Wahrgenommenen, Bewertung nach richtig und falsch
Gefühl: Bewertung des Wahrgenommenen nach Lust und Unlust, angenehm oder unangenehm
Intuition: unmittelbares Wahrnehmen, Bewusstwerden von Zusammenhängen, Ahnen

„Die Empfindung (das heißt Sinneswahrnehmung) sagt, dass etwas existiert; das Denken sagt, was es ist; das Gefühl sagt, ob es angenehm oder unangenehm ist; und die Intuition sagt, woher es kommt und wohin es geht.“
(JUNG, 1999)3

Dabei stehen sich Empfindung und Intuition als Achse der Wahrnehmung und Denken und Fühlen als Achse der Bewertung gegenüber.

Die entwicklungsgeschichtliche Reihung führt von Empfindung über Gefühl zu Denken und Intuition. Welche Bewusstseins- Funktionen besser entwickelt sind, hängt sowohl von den persönlichen Voraussetzungen, als auch von der jeweiligen Kultur ab.

Nach Laban korrespondiert der Bewegungsfaktor Raum mit Aufmerksamkeit und der Frage nach dem Wo, der Bewegungsfaktor Fluss mit Genauigkeit und der Frage nach dem Wie, der Faktor Kraft mit Absicht und der Frage nach dem Was und der Faktor Zeit mit Entschlossenheit und der Frage nach dem Wann.

Effort / AntriebFrage nachInnere BeteiligungAnkämpfendErspürend
RAUMWOAufmerksamkeitDirektIndirekt
KRAFTWASIntention, AbsichtStarkLeicht
ZEITWANNEntscheidung, EntschlossenheitSchnellGetragen
FLUSSWIEGenauigkeit (Festhalten/Loslassen)GebundenFrei

Diese Zusammenhänge und Gedankengänge wurden von Laban-SchülerInnen, wie z.B. Marion North weiterentwickelt:

„Marion NORTH (vgl. 1972, 267) spezifiziert die Erkenntnisse ihrer langjährigen Bewegungsforschung auf der Basis der LABANschen Bewegungstheorie und –analyse wie folgt…:

• –  Raum korrespondiert mit Denken

• –  Zeit korrespondiert mit Intuieren

• –  Bewegungsfluss korrespondiert mit Fühlen

• –  Gewicht/Kraft korrespondiert mit Empfinden

(PETER-BOLAENDER, 1992)4

Eine Verknüpfung der Bewusstseins-Funktionen nach Jung mit der Antriebslehre von Laban ergibt also folgendes Raster:

Effort / AntriebFrage nachBeeinflusstInnere BeteiligungAnkämpfendErspürend
RAUMWODENKENAufmerksamkeitDirektIndirekt
KRAFTWASEMPFINDENIntention, AbsichtStarkLeicht
ZEITWANNINTUITIONEntscheidung, EntschlossenheitSchnellGetragen
FLUSSWIEGEFÜHLGenauigkeit (Festhalten/Loslassen)GebundenFrei

Sowohl für Jung, als auch für Laban bedeutet die Integration von Gegensätzen einen Weg zur persönlicher Entwicklung und Selbstverwirklichung.

Die Art unserer inneren Motivation drückt sich also in unserer Bewegung aus und befindet sich irgendwo auf der Linie zwischen ankämpfend oder erspürend. Je nachdem, welche Bewegungsqualität wir bevorzugen, stehen Aufmerksamkeit, Genauigkeit, Absicht oder Entschlossenheit im Mittelpunkt – beziehungsweise unser Denken, Fühlen, Empfinden oder unsere Intuition. Die entsprechenden psychologischen Zuordnungen drücken sich wieder in beiden Polen aus. Ob eine Eigenschaft gut oder schlecht ist, unterliegt unserer Bewertung!

Die folgende Sammlung von Eigenschaften zu den Efforts orientiert sich an der Beschreibung Susanne Benders (BENDER, 2005)5:

Effort / AntriebAnkämpfend / Erspürend (A/E)Psychologische Aspekte
RAUMA: Direkt+ Entschieden, eindeutig, entschlossen
- Aufdringlich, verletzend rucksichtslos, eingeschrankter Horizont
E: Indirekt+ Freischwebende Aufmerksamkeit, das ganze im Blick haben
- Ausweichend, keine Entscheidungen treffen, unkonzentriert, überall und nirgends, Widerstand gegen Verpflichtungen, zerstreut
KRAFTA: Stark+ Durchsetzungskraft, energisch, kraftvoll, Willensstarke, prasent, standhaft, vital
- Stur, Autoritar, unterdruckend, arrogant, anmaßend
E: Leicht+ Zart, behutsam, sanft, froh, locker, sensibel, einfuhlend, fröhlich, diplomatisch
- Oberflächlich, nicht greifbar, unkritisch, seicht, unkritisch, keinen festen Standpunkt
ZEITA: Schnell+ Energiegeladen, effizient, spontan, einfallsreich, entschlossen, antreibend, temperamentvoll, lebhaft
- Unberechenbar, hysterisch, abrupt, ungeduldig, voreilig, ubererregbar
E: Getragen+ Intensiv, konzentriert, in sich ruhend, Zeit haben und lassen, achtsam, vorsichtig,
- trage, trodeln, faul, lahm, nicht zum Ende kommend, zah, klebend, in die Lange ziehend
FLUSSA: Gebunden+ Verbindlich, zuverlassig, kontrolliert, berechenbar, harmonisch, klar, klare Grenzen
- Verkrampft, starr, uberkontrolliert, verbissen, rigide, selbstbeschrankend
E: Frei+ Locker, offen, großzugig, entspannt, aufrichtig
- Flatterhaft, nicht fassbar, leicht beeinflussbar, unbestimmt, aufdringlich, Schwierigkeit Ziele zu finden

Eine Zusammenfassung der bisherigen Ausführungen lässt sich in einem Raster darstellen der, ausgehend von einer inneren Motivation (Antrieb / Effort) an der Art der Bewegung erkennen lässt, bei welchen Themen es innere Beteiligung gibt, wie diese aussieht, welche der Bewusstseins-Funktionen betroffen ist, ob eine Phase des Lernens und Versuchens, oder auch der Angst und Verweigerung (Vorantriebe) vorliegt und ob eher erspürende oder ankämpfende Qualitäten thematisiert werden.

Diese Zusammenhänge können einerseits zur Bewegungsanalyse und Diagnose- Erstellung verwendet werden, andererseits erleichtern sie den ressourcenorientierten Blick.

Jedes Sichtbarwerden von Efforts, das heißt, jeder innere Antrieb hat einen positiven Aspekt. Durch Bewegungsbeobachtung bzw. -wahrnehmung kann ich also meinen Blick direkt auf meine Ressourcen lenken.

Für viele Menschen ist der Zugang über Bewegung einfacher; so kann jemand z.B. an sich selbst eher gebundene Bewegung oder hohe Körperspannung (ich kann nicht lockerlassen, meine Schultern sind immer verspannt, u.a.) wahrnehmen als z.B. Verbissenheit oder Rigidität.

In der Arbeit mit Bewegung kann ich in diesem Fall den Blick auf den positiven Aspekt der jeweiligen Ausprägung lenken, in unserem Beispiel z.B. Zuverlässigkeit und Verbindlichkeit. Das erleichtert meist ein Annehmen des abgelehnten Aspekts und ermöglicht so die Grundvoraussetzung für Veränderung: Wahrnehmen und Akzeptieren von vorhandenen Mustern und Einstellungen.

Das Erleben, dass Eigenschaften, die Du an Dir selbst ablehnst, auch eine positive Seite haben, wird Dich bestärken und  zum Ausprobieren neuer Bewegungsmuster und damit Verhaltensweisen motivieren!


Weiterlesen:

Körperbild und Körperschema – die Entwicklung eines realistischen Körperbilds

Weiblichkeit in Bewegung – Tanz zu Dir Selbst


1 Peter-Bolaender, Martina, Tanz und Imagination, 1992, S. 154

2 Starks Whitehouse, Mary, in: Willke, Hölter, Petzold, Tanztherapie, Theorie und Praxis, 1991 S. 142

3 Jung, C.G.; von Franz, Marie-Louise; Henderson, Joseph L.; Jacobi, Jolande; Jaffe, Aniela; Der Mensch und seine Symbole, 2003, 16. Aufl. der Sonderausgabe 1999, S. 61

4 Peter-Bolaender, Martina, Tanz und Imagination, 1992, S. 177

5 Bender, Susanne, Die Bedeutung der Bewegungsanalyse für die Tanztherapie, Skriptum, März 2005, S. 37

Ashra Baladi Skriptum

Kommentare

2 Kommentare

  1. gudrun Schwarz

    Danke für die tolle Auflistung – sehr übersichtlich – habe selbst Ausdruckstanzpädagogik bei Veronika Fritsch gemacht – in einer für mich schwierigen Lebensituation – habe sehr davon profitiert und bin daran gewachsen – unterricht jetz Kinder in Kreativem Tanzen – möchte gerne aber selbst mit Tanzen in Bewegung bleiben – und freue mich immer über deine Mails – irgendwann wird es klappen – das ich nach Graz kommen kann. Herzliche Grüße und Danke für all die guten und wertvollen Inputs über -Tanz . Gudrun

    Antworten
    • Astrid Pinter

      Liebe Gudrun,

      schön von Dir zu hören. Auch ich habe Tanztherapie bzw. Tanzpädagogik in verschiedensten Lebenssituationen als sehr hilfreich erlebt und denke dass es vielen Menschen so geht. Schön auch, dass Du ein Betätigungsfeld gefunden hast. Und ich würde mich sehr freuen, wenn wir uns mal persönlich kennen lernen!

      Herzliche Grüße
      Astrid

      PS: pdf ist per mail unterwegs

      Antworten

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